Christian Hellmich

Wolfgang Ullrich
Ungefügig machen

In Texten über Malerei deren Faktur zu würdigen, ist geradezu eine Pflicht. Immerhin sind bei Gemälden Spuren des Werkprozesses fast immer präsenter als bei anderen Bildern. Mal lassen sich unter der Oberfläche befindliche Malschichten erahnen, mal ist der Farbauftrag besonders dick oder ganz lasie- rend, oder man kann Drippings, einzelne Pinselstriche oder gespachtelte Flächen unterscheiden, sieht vielleicht auch, wo eine Partie während der Arbeit mit einem Klebeband abgedeckt oder später noch korrigiert wurde. In vielen Fällen beschäftigt man sich beim Betrachten eines Gemäldes daher sogar länger und genauer – als mit den Motiven oder der Komposition – damit, wie es gemacht ist.
Auch die Faktur von Christian Hellmichs Gemälden bietet viel Stoff für eine derart analytische Inspek- tion. Aber bei ihnen kommt noch etwas hinzu: Man hat den Eindruck, der Maler wolle durch die Art und Weise, wie er Fakturen sichtbar macht, seine eigene Lust an der Arbeit kundtun, ja wolle Malerei gerade auch als Arbeit begreiflich machen. Bei seinen Gemälden lassen sich nicht nur ab und zu, sondern an fast jeder Stelle Entscheidungen nachvollziehen: Man sieht, dass und wie er noch eine Schicht darüber- gelegt, zusätzliche Motive erst in einer späten Phase eingefügt, einen Farbauftrag wieder abgekratzt, einen Farbverlauf ausdifferenziert oder eine Partie überspritzt hat. Man könnte daher von einer enormen Verdichtung und Verfeinerung des Fakturgeschehens sprechen, und wer sich darauf einlässt, das alles nachzuvollziehen, hat auf einmal selbst viel zu tun.
Das trainiert insbesondere zu einem detektivischen Blick, versucht man doch zu erkennen, was den Künstler jeweils dazu gebracht hat, seine Arbeit so fortzusetzen, wie er sie fortgesetzt hat. Und man ist zunehmend beeindruckt, dass auf Christian Hellmichs Bildern, im Unterschied zu vielen anderen Gemäl- den, keine Effizienztechniken entwickelt und angewendet werden. Wo sonst versucht wird, mit wenigen Strichen einen illusionistischen Bildraum zu schaffen oder Abkürzungen im Malprozess zu finden, eine bestimmte Wirkung also mit weniger Schichten oder schnelleren Strichen zu erzeugen, findet bei Hellmich das Gegenteil statt. Auf seinen Gemälden gelangt immer noch eine weitere Spielart von Farbauftrag zum Einsatz; frühere Bildstadien werden wieder freigelegt oder einzelne Partien mehrfach neu angelegt. Und wer Christian Hellmich im Atelier besucht, sieht nicht nur, dass er an mehreren Gemälden gleichzeitig arbeitet, sondern erkennt auch umso besser, wie viel zwischen einzelnen Schichten passiert, ja wie stark sich ein Gemälde im Lauf des Malprozesses verwandelt. Vielleicht – zu dieser Vermutung könnte man gelangen – malt Hellmich also nicht zuletzt, um auch wieder übermalen, noch- und nochmal ganz andere Schichten darüberlegen zu können. Und selbst wenn er ein Gemälde für fertig erklärt, behält es wegen der vielen Hinweise auf seine Genese den Charakter einer großen Baustelle: wirkt nicht statisch, sondern lebendig, vor allem aber voller Überraschungen und Verheißungen.
Die Assoziation mit Baustellen liegt auch deshalb nahe, weil auf Hellmichs Gemälden fast immer Teile von Gebäuden und diverse Arten gebauter Räume zu sehen sind, die ihrerseits aber nie vollendet und perfekt sind, sondern im Umbau begriffen, unfertig, vielleicht sogar halb verfallen oder auf andere Weise in einem Prozess des Übergangs erscheinen. Da Hellmich oft Farbtöne verwendet, die man vor allem mit der Nachkriegszeit der 1950er-Jahre assoziiert und die daher längst etwas morbide anmuten und wahl- weise nostalgisch oder schwermütig stimmen, die Gebäude und Objekte auf seinen Bildern hingegen jeweils aus anderen Zeiten zu sein scheinen, wirkt es, als seien mehrere Phasen der Geschichte zugleich präsent. Nicht nur das einzelne Gemälde, sondern Geschichte selbst erscheint somit als Summe und Zusammenspiel von Schichten – als Ge-schichte.

Doch bricht Hellmich auf seinen Gemälden nicht nur die Einheit der Zeit auf. Genauso setzen die Bild- räume bei ihm immer wieder neu an. Es gibt Perspektivbrüche und einen Wechsel von illusionistischen und flachen Bildpartien; das Auge findet keinen Fixpunkt, von dem aus sich jeweils das gesamte Gemälde erschließen ließe. Das wirkt, als komme der Raum selbst nicht zur Ruhe, sei in fortwährender Bewegung und Veränderung begriffen.
Dass Christian Hellmich die Spuren des Arbeitsprozesses so präsent hält und seine Gemälde auch sonst in jeder Hinsicht komplex und ungefügig macht, bringt sie in die – dankbare und wichtige – Position eines Kontrastprogramms zum Gros heutiger Bilder. Diese sind nämlich so smart wie die Geräte, auf denen die meisten von ihnen entstehen: zwar von digitalen Programmen durch und durch bearbeitet, dies aber gerade ohne erkennbare Spuren. Diese Diskretion der Faktur digitaler Bilder mag im Allgemeinen als Kom- fort empfunden werden, da man nirgendwo hängenbleibt oder gar verwirrt wird, doch auf Dauer wirkt sie auch langweilig, ermüdend und kalt. Dass man an keiner Stelle einhaken kann, um etwas nachzuvollziehen oder um sich zu überlegen, wie dasselbe Bild in einem früheren Moment vielleicht aussah oder wie es alternativ aussehen könnte, verleitet fast zwangsläufig zu einem passiv-stumpfen und entsprechend oberflächlichen Rezipieren.
Kann Malerei in einer rundum digitalisierten Bilderwelt daher generell neue Relevanz entfalten, so gilt dies erst recht für so fakturbewusste, umbruchhafte Gemälde wie die von Christian Hellmich. Bei ihnen ist all das möglich, was sonst zu kurz kommt. Man kann sowohl die Sujets als auch die Art und Weise, wie diese dargestellt sind, aktiv mit- und weiterdenken, und dass sich das Bild eigens als Bild, ja als etwas Gemachtes erleben lässt, sorgt für eine umso beglückendere Erfahrung: Hier ist jede Stelle, ist jeder Moment reflektiert; man gelangt in einen Modus der Vergegenwärtigung und wird damit selbst lebendiger.