Mark Gisbourne
Stein auf Stein, Stein auf Stein...
"This is the House that Jack Built..." (Die Malerei Christian Hellmichs)
Die Architektur des Raums ist jedem von uns vertraut. Aber sind wir uns auch bewusst, welche Rolle das architektonische Wissen bei der Entwicklung unserer räumlichen Wahrnehmung spielt? „Architektur“ in der Bedeutung einer Wissenschaft der räumlichen Gestaltung ist allgemein verständlich. Aber wie steht es mit den anderen Bedeutungen des Begriffs: Gestehen wir auch dem systematischen Konstruieren, dem Kontrollieren und Steuern einen substantiellen und wahrnehmbaren Status der Visualisierung zu? Und sind diese Bedeutungen in das fundamentale Formen und Gestalten integriert, bei dem unser architektonisches Erfahrungswissen zur Anwendung kommt? Anders formuliert: Worin bestimmt sich das Resultat dessen, was man die Architektonik der visuellen räumlichen Wahrnehmung nennen könnte? In welchem Maß ist der Weg oder die visuelle Argumentation, die uns zu einem neuen Stand der architektonischen Wahrnehmung und Vorstellung führen, ein Teil dieses Ergebnisses?
Von unmittelbarer Bedeutung für unsere Auseinandersetzung mit dem Maler Christian Hellmich ist die Frage, wie die wahrnehmbaren Inhalte von dessen komponierten und explizit entlehnten (oder vorgefundenen) architektonischen Motiven in eine andere, konstruierte Welt der Repräsentation übersetzt werden. Oder, um den Sachverhalt am Begriff selbst festzumachen: Inwiefern erfahren diese eine Re-Präsentation, um als Malerei eine andere Art der visuellen Wahrnehmung und Erfahrung hervorzubringen? Mein Eindruck ist, dass Hellmichs Auseinandersetzung mit bestimmten architektonischen Motiven nicht so sehr mit dem zu tun hat, was wir bereits wissen, sondern eher mit dem, was er für potentiell erkennbar und erfahrbar hält – wenn auch nur allmählich und durch eine längere Beschäftigung mit dem konstruktiven Materialeinsatz in seiner Malerei.
Christian Hellmichs architektonische Räume oder ausgewählte Motive sind weder Erfindungen noch tatsächliche Realität. Es wäre auch zu oberflächlich, sie bloße Verdichtungen oder Überlagerungen des Gesehenen zu nennen, denn in dieser Malerei entsteht und offenbart sich eine andere Form des Wissens, die nur möglich wird, weil Hellmich einem doppelten Arbeitsprinzip folgt: Er kontrolliert den Entstehungsprozess des Werkes, ebenso wie seine eigene Präsenz als Maler in diesem Werk. Das Besondere daran ist, dass Hellmichs Arbeiten immer „im Entstehen begriffen“ sind und dass sie sich durch eine Art der verifizierten materialen Präsenz erschließen. Sie initiieren einen Prozess der Wahrnehmung, der sehr allmählich verläuft und in der eigentlichen Praxis des Malens an einem Bild zur Umsetzung kommt.
Die Bilder von Christian Hellmich zeigen uns keine Welt der wiedererkennbaren, festgelegten ikonografischen Bedeutungen und/oder Inhalte (sie verweigern sich dem Spiel des Entdeckens und Vergleichen von Quellen), sondern eine Ansammlung persönlicher Interpretationen, die aus bearbeiteten Quellenmaterialien eine Summa neu komponierter architektonischer Wahrnehmungen machen. Dass die Bilder figurativ sind, gehört dabei zu den weniger wichtigen Feststellungen; viel interessanter scheint, dass sie bewusst konfigurativ sind. Sie handeln von externen Figuren und übertragenen Formen, nicht von unmittelbar assoziierbaren und erkennbaren Erscheinungen. Denn im Unterschied zur Figuration ist die Konfiguration kognitiv erfassbar, ohne auf Wiedererkennung abzuzielen und uns dadurch aus dem Bild herauszuführen. In diesem Erkennen ohne Wiedererkennung und örtliche Zuordnung liegt nach meiner Ansicht ein entscheidender Wesenszug der Malerei von Christian Hellmich. Die Inhalte seiner Bilder sind nicht so sehr Verweise auf etwas Bestimmtes, sondern eher bloße Referenten oder mit Bedeutungen belegte, vom Gesehenen abgeleitete und umformulierte Attribute. Sie sind architektonische oder räumliche Elemente, die der Maler in seiner Arbeit von Grund auf neu schaffen kann.
Am besten lassen sich diese Differenzierungen nachvollziehen, indem wir uns nun die Bilder ansehen. An dem Gemälde Trinkhalle (2005) fallen sofort drei Aspekte auf: die Flächigkeit, die Perspektive und der vielfältige Einsatz verschiedener Malweisen. Interessant ist die besondere Dialektik (man könnte sie fast eine visuelle Konversation nennen), die Hellmich zwischen diesen Aspekten entfaltet. Große Farbflächen sind in mehreren Schichten mit einem Spachtel gleichmäßig aufgetragen und an den Rändern so ausgefranst, dass dieser Farbauftrag mit der Zweidimensionalität eines dekorativen Schachbrettmusters im oberen Teil des Bildes kollidiert. Im unteren Teil wird aus dem gleichen Schachbrettmuster, das eben noch die Fläche betonte, eine von links ausgehende Orthodiagonale, wogegen sich das Muster zum rechten unteren Bildrand hin immer mehr auflöst und wirkt, als hätte man Fliesen von einer Wand gerissen. Was also zunächst den Eindruck von Zweidimensionalität bestärkt, gerät zu einer Betonung räumlicher Tiefe, je mehr man in das Bild eintaucht und beginnt, sich darin zurechtzufinden. Ähnlich suggeriert die Konstruktion des fiktiven Getränkekiosks in der Bildmitte zunächst die Dimensionen eines geometrischen Körpers, verflacht sich dann aber von innen heraus, sobald das Auge auf die illusorischen Fenster trifft. Im Vordergrund schwebt ein länglicher Quader im stumpfen Winkel zur Bildebene scheinbar im Raum, doch mitten hindurch geht eine senkrechte Teilung, die ein Verweis auf den goldenen Schnitt sein könnte – vielleicht dient sie Hellmich aber auch dazu, die Vielfalt unmöglicher Räume zu betonen, die er geschaffen hat, um ein Spannungsverhältnis zwischen Zwei- und Dreidimensionalität zu erzeugen.
Während sich in Trinkhalle Fläche und Räumlichkeit gegenseitig in Frage stellen, finden wir in Kiosk II (2005) eine Auseinandersetzung mit der Planimetrie und mit den optischen Prozessen des Farbmaterials und der Malweisen. Auf den ersten Blick ähnelt das Bild einer mit Rissen überzogenen Kulisse. Eine flache Diagonale definiert die breite Fassade mit rechtwinkeligen Öffnungen, die eine Tür und Fenstereinsätze erkennen lassen. Die Betonung liegt auf der Wiederholung rechtwinkliger Formen, auf einem scheinbar zugemauerten Fensterloch in der vordersten Bildebene, dessen rechteckige Ziegel die Formen rundherum wiedergeben, sowie auf den horizontal angeordneten Quadern und einem Würfel im oberen Bereich des Bildes. Die kompositorische Strenge wird nur durch eine asymmetrische Girlande oder Markise abgemildert, die aus einem fleckigen, kastenartigen Vordach ragt – eine ungewöhnliche und humorvolle Intervention bei einem Haus, das nicht existiert und wahrscheinlich auch in der vom Künstler entwickelten Form gar nicht existieren kann. Doch es geht eben genau darum, dass dieses Haus in einem imaginären Zustand sehr wohl existieren könnte, denn es erinnert merkwürdig an eine bestimmten Typ von schmuckloser und auf das Wesentliche reduzierter, moderner Architektur. Die synthetisierten Gebäude, die Hellmich von ausgewählten Primärelementen ableitet und zu einem „Bild macht“, spielen auf die Allgegenwart des Banalen an. Jedes Anzeichen einer besonderen, nur ihnen eigenen Geschichte hat er rigoros entfernt. Zugleich belegen die Arbeiten dieser Serie, wie fast alle Bilder des Künstlers, dass er durch die Konstruktion und die Anwendung seiner Mittel den Gebäuden einen Status der Einzigartigkeit und Isolation verleihen will. Zumeist artikuliert sich dies in Andeutungen von Verlassenheit und Verfall. Die Bauten geraten durch ihre schäbige Anmutung zu Trägern eines spartanischen Ausdrucks. Immer handelt es sich um Orte theoretischer menschlicher Präsenz, aus denen dann aber alle Spuren von Menschen getilgt sind. Trinkhallen oder Kioske, im wirklichen Leben Orte menschlicher Interaktion, verwandeln sich so in eng umgrenzte, imaginäre Objekte – nicht nur, weil Hellmichs Reduktion jede narrative Lesart unmöglich macht, sondern auch, weil diese Bauten als Portale seiner eigenen Vorstellung zwar üppig mit Referenten, aber eben mit unspezifischen Referenzen beladen sind. Und doch suggeriert vor allem in Kiosk II der vordringliche Einsatz malerischer Mittel eine starke menschliche Präsenz – nur eben auf materieller und malerischer Ebene, im und durch das „Malen des Bildes“. Hellmich will offenbar sagen, dass unser Menschsein unmittelbar im Vorgang des menschlichen Ausdrucks zur Geltung kommt. Wie wir alle wissen, muss jedes Gemälde notwendig einen Gegenstand oder ein Thema haben, sei es auch nur das Malen selbst. So erklären sich am ehesten die beiläufigen, lasierten, oft auch wie hingeschmierten hingeschmiert wirkenden Farben rund um die Architektur in Kiosk II. Es ist die materiale und expressive Machart selbst, die hier auf eine umfassendere Realität verweist, und diese umfassendere menschliche Realität besteht in der Tatsache, dass jemand gerade unzweifelhaft dabei ist, ein Bild anzusehen.
Die Übertragung des originalen Quellenmaterials an einen fiktiven Ort – und von dort an einen Unort oder ein paradoxes, potentielles „Überall“ – ist auch in Schänke (2005) erkennbar. Dieses Bild belegt zudem das anhaltende Interesse des Künstlers an Türen, Toren und Eingängen. Es verwendet eine im Vergleich zu Kiosk II gegenläufige, tiefere Orthodiagonale und ähnelt stark der (zum Zeitpunkt des Schreibens) noch unvollendeten Darstellung einer abwärts führenden Treppe mit dem Eingang zu einem Theater- oder Kinosaal im Untergeschoss. Die unvollendete Arbeit zu betrachten hat den Vorteil, dass man zusehen kann, wie der Künstler seine Wahrnehmungs-Räume aufbaut: Mit Klebeband markiert er lineare Strukturen, bündelt und gliedert die bearbeiteten Quellenmaterialien. Deutlich wird der Farbauftrag in vielen Schichten und die Wichtigkeit der Zeichnung für die Komposition der entstehenden Strukturen. Hellmich gibt hier wie anderswo die zu Grunde liegenden zeichnerischen Elemente in seinen Bildern zu erkennen oder lässt die unteren Farbschichten hervortreten. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Bedeutung seiner Bilder in ihrer Entstehung liegt und dass wir es mit Gebäuden der Fantasie imaginären Gebäuden zu tun haben. Es verhindert zwar nicht, dass wir in einem ersten Impuls konkrete und spezifische Gebäue erkennen wollen. Aber es offenbart, wie sehr das Unspezifische im Betrachter die Sehnsucht nach identifizierbaren und assoziativen Inhalten weckt. Es geht Hellmich schlicht um die Fähigkeit der Malerei, eine andere Welt zu schaffen – sie für uns begreifbar und lokalisierbar zu machen.
Dass Hellmichs Arbeiten Strukturen und Modelle der Welt sind, wird in Ohne Titel 4 (2005) deutlich. Hier steht ein potentielles Musterhaus auf einem Tisch mit denselben orthogonalen und linearen Symmetrien. Das gesamte Bild betont stark die Vertikale, wobei die eigenwillig markierten Koniferen keine natürlichen Gewächse bezeichnen sollen, sondern ausschließlich einem kompositorischen Zweck dienen. Dieses Werk offenbart Hellmichs Methode der Wahrnehmungs-Konstruktion: Die rasterartige Grundstruktur des Bildes ist in den Vordergrund gerückt, und die zeichnerischen Elemente durchdringen dünnere Farbschichten. Treppe (2005), gerät in kompositorischer Hinsicht nachKiosk II, enthält aber eine deutlichere Epochenkennzeichnung (durch Elemente der Alltagsarchitektur der Fünfziger- und Sechzigerjahren): Das Treppengeländer erinnert an zahllose andere aus der deutschen Nachkriegszeit. Wie die Fassade selbst steht es für die mittlerweile etwas schäbig gewordene Welt des Wirtschaftswunders. Da Hellmich in Essen studiert hat, das von den Bombenangriffen des 2. zweiten Weltkriegs fast völlig zerstört wurde, hatte er diese Architektur jeden Tag vor sich. Dass er sie nicht direkt in seine Bilder überträgt, sondern als Vorlage für eine andere Art von Hybridität verwendet, gehört sicher nicht zu seinen geringsten Leistungen. Die strengen, minimierten Inhalte seiner Architekturen sind nicht nur betont, sondern übertrieben, denn er versagt sich darin jede anachronistische oder persönliche Spur menschlichen Lebens. Das könnte man so verstehen, dass das Dasein der Bewohner für Hellmich ebenso abstrakt und unbestimmt bleibt wie das ihrer Häuser, denn was er in seinen Bildern bezeichnet, sind ausnahmslos entweder Orte des anonymen öffentlichen Kommens und Gehens oder unzugängliche Wohnbauten. Zudem nützt er gezielt unspezifische Verweise und bezeichnet damit eine typisierte Realität, die „überall“ angesiedelt sein könnte. Die Milchscheiben in den Fenstern von Treppe finden sich beispielsweise in zahllosen Wohnhäusern oder gesichtslosen öffentlichen Bauten dieser architektonisch im Allgemeinen verbleibenden Nachkriegsära. Gleichzeitig wird mir als Betrachter aber vor Augen geführt, dass ich nur meinem eigenen Bedürfnis nach Identifikation mit dem Gesehenen folge, indem ich solche Wirklichkeitsbezüge herzustellen versuche. Christian Hellmich würde vermutlich sagen, dass er einfach nur ein Bild malt, oder, um mich ausnahmsweise selbst zu zitieren, dass er „zeigt, wie das Entrücken von Dingen aus der Welt diese irgendwie realer werden lässt, wenn man sie in einer Malerei betrachtet.“ 1
Was wir in Christian Hellmichs Malerei finden, ist sein eigenes visuelles Vokabular – eben das, was ich zu Beginn dieses Essays als ein Konstruieren, Kontrollieren und Steuern bezeichnet habe und das einen substantiellen und wahrnehmbaren Status der visuellen Realisierung anstrebt. Dass wir es hier mit einem Vokabular zu tun haben, zeigt sich am deutlichsten bei einem Vergleich der Arbeiten Trinkhalle und Imbiss (2005). Beiden ist dieselbe horizontale Fluchtlinie eigen, ebenso wie die Atmosphäre der Anonymität eines Unortes. Beide betonen auf gleiche Art die Planimetrie und die Substrukturen, die ihre Entstehung als Bilder markieren. Es wäre nun allerdings grob irreführend, Hellmichs Arbeit so darzustellen, als existiere sie in einem Vakuum. Denn sie ist Teil eines umfassenderen Anliegens, das der Künstler mit vielen seiner Zeitgenossen teilt – darunter auch mit einigen der bekannten und aufstrebenden Leipziger Maler, die sich ebenfalls intensiv mit der Wahrnehmung und der Architektur des Raumes auseinandersetzen. Man könnte sagen, dass diese Entwicklung eine Rückkehr zum Entstehungsprozess und ein neues Interesse an den Erscheinungsformen materialer Präsenz im Kunstwerk belegt. Hellmich gehört zu einer neuen Generation von Malern, die nach ungefähr 40 Jahren Strukturalismus und Poststrukturalismus eine neue Phänomenologie entwickelt haben. Diese ist frei von jedem schalen Idealismus der Nachkriegszeit und nimmt doch das Anliegen Merlau-Pontys wieder auf, der sagte: „Der wahrnehmende Geist ist ein verkörperter Geist. Ich habe vor allem anderen versucht, die Wurzeln des Geistes wieder in seinem Körper und in seiner Welt zu verorten...“ 2 Genau dieser Haltung begegnet man in der Malerei von Christian Hellmich. Seine hier gezeigten Werke präsentieren sich wie die früheren als übersetzte Wahrnehmungen der architektonischen Welt. Sie handeln nicht von inszenierten Wahrnehmungen oder Intuitionen, sondern betreiben und hinterfragen zugleich eine Auseinandersetzung mit der räumlichen Neuordnung unserer Wahrnehmung. In unserer zeitlich eng strukturierten und obsessiv medienvermittelten, virtuellen und so genannten postvirtuellen Welt erinnert uns Hellmichs Malerei dankenswerterweise daran, dass unser Geist in einem Körper wohnt und dass sich unser Leben ebenso sehr im Raum wie in der Zeit abspielt. Das Malen als solches ist immer phänomenal; die einsamen Praktiken des Ateliers zwingen den Maler zu einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen Präsenz vor dem Werk und im Werk. Darin ist die große Kraft der Malerei begründet, und darum werden wir in ihr immer die Kraft des Schöpferischen wiederkennen.
Mark Gisbourne
Mittwoch, 22. März 2006