Melitta Kliege
Zeichnerisches Denken und bildhauerisches Handeln
Utopien in den Bildern von Christian Hellmich
„Fresh paint“ heißt 2005 eine jener vielen Gruppenausstellungen, in der einmal mehr nach einer Neubestimmung des Mediums der Malerei gefragt worden ist. In einer New Yorker Galerie werden neue Bilder von jungen Künstlern vorgestellt, die in ihren Arbeiten, so der Pressetext, „architektonische Körper isolieren und herausstellen sowie arrangierte Innen- und Außenräume wiedergeben. Einige dieser Schauplätze sind erzählerisch, andere völlig frei von jeglichen fiktionalen Bezügen.“ Christian Hellmich zeigt dort Bilder, in denen er architektonische Fragmente wie Treppen oder Pavillons einsetzt und mit konstruktiv abstrakten Elementen verbunden hat. „Imbiss“ nennt er eines von diesen. Unverkennbar ist darauf das Gebäudefragment einer Trinkhalle zu erkennen und damit ein Versatzstück aus einer vertrauten architektonischen Realität. Fassadenelemente und Gebäudeansichten, Treppen und Treppenhäuser, Eingangssituationen, Container, Markthallen oder Trafohäuschen gehören lange zu den dominierenden Motiven seiner Werke, die sich der Künstler in seinem Bildarchiv in Form von Vorlagen aller Art, eigenen Fotografien, Postkarten oder Zeitungsausschnitten, zur Verfügung hält. Dabei sind die architektonischen Elemente oft unspektakulär und eher gewöhnlich. Sie sind in der Lage, Erinnerungen und Eindrücke von realen Hauseingängen, Treppenverläufen oder Stadtlandschaften zu vermitteln.
Bei dem Rundbild „Inn“ von 2015 wird solches wieder aufgegriffen. Das Motiv eines monumentalen Büro- oder Hotelkomplexes ist hier zentral ins Bild gesetzt; es zeigt in modernistischem Flair der sechziger Jahre einen zylindrischen Gebäudeturm mit gleichförmigem Fassadenablauf, der durch einen Hals mit einem Flachbau verbunden zu sein scheint. Vorkragende Dachkonstruktionen einer eher postmodernen Bauauffassung sind hingegen bei dem Bild „Pool“ von 2014 bestimmendes Architekturzitat. In dessen geschwungener Formulierung werden zudem gliedernde Gebäudeelemente wie Treppen oder Wandstücke eingebaut. Fragmente auch von Ikonen der Architekturgeschichte sind hier zu finden, beispielsweise Referenzen zu den Domes beziehungsweise den geodätischen Kuppeln von Buckminster Fuller. Deren bekannteste Variante ist die Biospère, ein Ausstellungspavillon, mit dem die Vereinigten Staaten auf der Expo1967 in Montreal aufgetreten sind. Bei der Auswahl von Architekturmotiven lässt sich schon hier ein Merkmal beobachten: Immer gibt es eine besondere Art der Flächengestaltung oder eine Struktur, die mit der jeweils gewählten Fassade verbunden ist, so der rhythmische Rapport von Fensterachsen in dem Hochhaus, die horizontale Gliederung von Jalousien bei der Trinkhalle oder die auf Dreieckskonstruktionen basierende Außenhaut der Fuller-Kuppeln.
Doch solche Architekturfragmente sind nicht die einzigen hervorgehobenen Motive bei den Bildern von Hellmich. Um 2008 beherrschen für einige Jahre vor allem konstruktive, abstrakte Formen die Leinwände des Künstlers, wie in dem Doppelbild „Station“ zu sehen. Diese geometrisierenden Elemente werden aber um 2010 erneut erweitert und abgelöst durch Gegenstände oder Dinge, die fortan auch fragmentiert als Bildmotive hervortreten, so Verpackungsmaterialien in dem Werk „Konfektaufsatz“ oder Lautsprecher in dem Bild „Top A Top“. Würde eine solche Beweglichkeit nun einfach bedeuten, dass in der Arbeitsweise des Künstlers eine postmoderne Freiheit sich manifestierte, bei der einmal abstrakt, dann wieder dem Gegenstand zugewandt gemalt werden könne? Mitnichten. Denn trotz der vielen gegenständlichen Referenzen sowie der Fülle an abstrakten Bildelementen, geht es in der Kunst von Hellmich an sich nicht um das Darstellen und somit erst recht nicht um Stilbegriffe. Dies unterscheidet seine Werkauffassung von anderen Malern, lässt man an dieser Stelle einmal die expressive Gegenständlichkeit der Neuen Wilden oder – konträr dazu – die mit den Bildern angeschlagenen inhaltlichen Kommentare bei Martin Kippenberger in den achtziger Jahren Revue passieren. Oder denkt man an den radikalen Realismus von Peter Doig, Elizabeth Peyton oder Luc Tuymans in den neunziger Jahren und an die Maler der Leipziger Schule zu Beginn des angebrochenen Jahrhunderts.
Hellmichs Bilder sind von Anfang an gerade von einer Kombinatorik heterogener Bildmotive gekennzeichnet, die stets als Fragmente wiedergegeben sind. So zeigt das Bild „Trinkhalle“ von 2005 beispielweise bereits, dass das architektonische Motiv des Pavillons sowohl von Flächengestaltungen wie Schachbrett, Streifenmuster oder Monochromie begleitet wird, als zugleich auch von einem entwickelten und kontinuierlich genutzten Repertoire an Dekor und Ornamenten, wie die gewundene Säule oder das bewegte Schriftband. Die Flächenmuster nehmen dabei stets Bezug zu tatsächlichen Wand- und Bodenflächen auf, wie Fliesen, Holzpaneele, Estrich oder Wandanstrich. Nicht nur führen diese Elemente punktuell eine Tiefe oder eine Verflachung der Bildräumlichkeit herbei, auch können sie auf andere Jahrhunderte verweisen, mit der Säule etwa in den Barock oder mit dem Schriftband in die Renaissance. In dem Bild „Pool“ unterbricht das Architekturdekor der Säule beispielsweise – vertikal an den vorderen Bildrand gerückt – die tiefenräumliche Anlage des Bildes, die durch die vermeintlich postmoderne Dachkonstruktion erst erzielt worden ist. Deren geschwungene Formulierung ließe entfernt nun auch an ein Schriftband denken. In dem Bild „Inn“ ist das vielfach eingesetzte Säulenmotiv hingegen ein in die Bildstruktur eingewobenes Fragment, das nach oben hin in einem bogigen Linienprofil ausläuft und – derart zur Girlande oder zum Markisendekor verkürzt – ebenso zum Motivrepertoire des Künstlers zählt. Zu solchen Dekors entstehen einzelne Studien, wie das kleine Bild „Bad Box Boy Patrol“ von 2015.
Schon mit dem ersten Blick auf die Bilder von Hellmich fällt allen bisher aufgezählten, in den Werken erkennbaren Motiven zum Trotz besonders deren bildhauerische Qualität auf. Aufgrund der meist verhaltenen Farbigkeit sowie der formalen Gestaltung gelangen diese Arbeiten schnell in den Verdacht, eine Nähe zum Objekt zu haben. Wesentlich zum Verständnis der Werke ist in diesem Zusammenhang die Methode der Fragmentierung. Motive aller Art einzig in Fragmenten wiederzugeben, bedeutet, dass diese keinen homogenen Bildraum erzeugen, sondern darauf hin angelegt sind, in alle erdenklichen Richtungen ergänzt werden zu können. Hellmich spricht hier von „Restgegenständlichkeit“. Das Fragment ist geradezu das bildnerische Mittel – Scharnier und notwendige Form –, um durch diese Lücke, eine nicht definierte Stelle, Perspektiven auf das Bild generell wechseln und die Aufmerksamkeit auch auf die Materialität des Werkes lenken zu können. Und hier entsteht eine Überraschung. Denn die Bildherstellung und das technische Verfahren deuten darauf hin, dass Hellmich zwar Ölfarbe als sein Werkmittel nutzt, er dieses jedoch bildhauerisch einsetzt.
Der Bildaufbau ist geprägt von einer Übereinanderlagerung verschiedener Farbschichten, die später nicht mehr näher zu differenzieren sind. Die Grundlage bilden verschiedene pastose Farbflächen, die auch mit einem Rakel aufgetragen und untergliedert werden. Darauf werden Flächenraster angelegt, diese verschiedentlich verstärkt oder überarbeitet, schließlich jeweilige Motive ins Bild gesetzt. Typisch für diesen Werkprozess ist, dass die Farbschichten sich derart solide entwickeln, dass zum einen ein Steg aus Farbe am Bildrand entsteht, der dort die Leinwand erweitert und die Materialität des Bildes konkret werden lässt. Zum anderen kann durch diesen festen Aufbau das Material sodann mit Werkzeugen wie der Schleifmaschine oder mit Messern bearbeitet werden. Denn bei Hellmich findet die Bildherstellung nicht nach malerischen Prinzipien statt. Vielmehr sind das Abschleifen und das Wegnehmen von Farbe werkkonstituierende Verfahren und damit bildhauerisches Handeln.
Dass Hellmich als Bildhauer vorgeht, belegt noch ein weiterer Aspekt. Neben den Arbeitsprozessen des Abschleifens, des Wegnehmens, des mechanischen Behandelns von Ölfarbe führt der Künstler zudem Techniken aus dem Handwerk ein: Das Verfahren des Abklebens wird bei ihm zur Methode der Darstellung, mit der er jegliche Struktur und Zeichnung in seinen Bildern überhaupt erst erzeugt, seien es Begrenzungen von Farbflächen, seien es gegenständliche Motive, seien es einzelne Linien oder seien es Muster im Bild. Die gesamte Bildgebung wird durch diesen handwerklichen Umkehrprozess mithilfe von Klebeband oder Schablonen hervorgebracht, wodurch ein Werk im Hinblick auf die Frage, was Figur oder was Grund, was negativ oder was positiv sei, was im Bild vorne oder was hinten liegen mag, von vorne herein in allen Fällen doppeldeutig bleiben muss. Dies bedeutet auch: Alle Linien werden mit dem Tape oder mit dem Messer gezogen. Die Liniatur ist durch Schneide- und Klebetechnik erzeugt. Dadurch erweist sich die Bildproduktion als eine zeichnerische Vorgehensweise im Material, was kaum verwundert, wenn man bedenkt, dass bei Hellmich das Zeichnen – zunächst in Form von Comics – schon seit dem Studium im Fokus stand. Erst bei Jörg Eberhard an der Folkwangschule Essen begann er dann die Malerei (und den Umgang mit Farbe) von einer ganz anderen Seite aufzuwickeln. Wie sieht es im Schaffen des Künstlers daher mit der Linie aus, dem zweiten Gesichtspunkt dieser Gattung? Seit jeher ist die Malerei verbunden mit einer kunsttheoretischen Debatte um die Vorrangstellung von Linie oder Farbe, die sich in den beiden Lagern, den Rubenisten und den Poussinisten, festmachen ließ. Während der Linie zugesprochen wurde, eine Idee abbilden zu können, sollte die Farbe nur sich selbst darzustellen vermögen. Zudem ist die Linie Darstellungsmittel der Zeichnung und beinhaltet alleine durch deren Führung schon die Kraft, Dinge entstehen zu lassen, Räumlichkeit zu bilden, Illusionen zu erschaffen aber auch alles in ein Gegenteil zu verkehren. Und genau dieses ist letztlich als ein Inhalt der Werke von Hellmich auszumachen. Sein Werkbegriff ist aus einem zeichnerischen Gedanken entstanden und seine Bildelemente führen zu einer komplexen Bildstruktur, die vor allem eines vermag, Bilder anzubieten, um darin zu lesen.
Den Pinselduktus als expressives und damit auf den Künstler verweisendes Element hat Hellmich durch seine entliehenen (mechanischen) Bearbeitungsverfahren gleich ausgeschlossen und damit unterstrichen, dass das Bild vor allem ein visuelles Instrument (und keines des Ausdrucks) ist. Es ist (aufgrund von Sehgewohnheiten) in der Lage durch vermeintlich-sichtbare Realitätsfragmente Illusionen aufscheinen zu lassen, wie wehende Stoffe oder Bänder, wie räumliches Volumen durch geworfene Draperie, durch winkelige Konstruktionen oder durch schräggestellte Wände, wie Boden- oder Wandoberflächen des Innen- oder Außenraumes. Doch all dies ist Augentäuschung. „Bühnenbild“ ist der Titel eines jüngeren Werkes, an dem beobachtet werden kann, wie sich mithilfe von künstlerischen Mitteln solch ein Illusionsraum – hier keiner der darstellenden Kunst – bilden lässt. Bildübergreifendes Motiv ist eine technische Konstruktion mit fensterartigen Öffnungen. Sie steht leicht diagonal im Bild und tritt räumlich hervor, indem ein weißer Streifen im Bildgrund das Objekt noch hinterfängt???. Die Fensteröffnungen scheinen den Blick auf einen kontrastreichen Farbhorizont frei zu geben. Gegenständliche Referenzen auf Fahrzeuge (wie Wohn- oder Bauwagen) lassen sich anschließen, die der hier genutzten Bildvorlage eines Fahrsimulators nicht entgegenstehen. Die Farbflächen, denen ein malerischer Duktus grundsätzlich fehlt, zeugen auch hier von einer mechanischen Bearbeitung. Den homogenen Eindruck des Bildraumes stören allerdings das Wandsegment mit Streifen, das zentrale Feld mit Camouflage, dekorative Versatzstücke, wie das Bodenraster und die im Halbrund abgeschlossenen Balken am unteren Bildrand sowie vor allem die leuchtend schwingenden Bänder und auch der Bildträger, der im unteren Drittel einfach an eine Atelierwand erinnert. Was im Bild nun vorne und was hinten liegen mag, was tatsächlich Objekt und was vielmehr Hintergrund sein könnte, lässt sich aufgrund Hellmichs Umkehrverfahren bei der Bildzeichnung dann aber kaum festmachen. Einzig Spritzer im Bild sind nüchterne und ganz reale Elemente, die aus dem Illusionsraum spontan wieder in die Gegenwart zurückleiten.
Pressetext zur Ausstellung „Fresh Paint“, Lehman Maupin Gallery, New York, 2005.
Auch die Bildtitel bringen jeweils eigene, meist gedanklich-kontrastierende Dimensionen ein. Der Titel „Pool“ beispielsweise spielt auf (stillgelegte) Swimming-pools an, die in der Kultur des Skateboardfahrens von Bedeutung sind.